Copyright: 2016 Jordi Rodríguez-Amat

Dieser Text ist in der Abteilung für Kultur der Katalanische Regierung registriert worden.

Der Traum vom Theseus

 

Auf einem Stuhl des Flughafens sitzend war ich eingeschlafen, als ich plötzlich aus dem Lautsprecher den Namen Heraklion hörte. Erschrocken rannte ich zur Tür, wo schon eine lange Schlange stand und die ersten Passagiere sich im Bewegung setzten.

Nachdem wir ein paar hundert Meter zu Fuß auf der Start- und Landebahn des Flughafens zurückgelegt hatten, stiegen wir in das Flugzeug ein. Es war eine kleine, zweimotorige Propellermaschine, sehr schäbig, ohne den Komfort, den man erwarten wurde auf einem Flug von Athen nach Kreta. Die Abflugszeit war auf halb neun morgens festgesetzt. Zwei Stunden später würden wir in Kreta angekommen sein.

Direkt neben mir saß ein Mann, eher jung und ruhig, der ganz tief in seine Gedanken versunken war. Es war so, als würde er auf dem Tiefpunkt seiner eigenen Einsamkeit liegen. Ich versuchte zu erahnen, was seine Gedanken verbergen könnte. Ohne weiter nachzudenken, sagte ich mir, dass dieser Mann lieber seinen Gedanken nachging, als große Worte zu machen. Obwohl er neben mir saß, war er weg, weit weg in seinen Gedanken. Um trotz meines Wunsches und um meine Neugier zu befriedigen, wagte ich nicht, ihn aus seinen Gedanken zu reißen.

Ich selbst habe versucht, mich abzuwenden und darüber nicht weiter nachzudenken. Aber mein Vorstellungsvermögen hatte mich gezwungen, eine Erklärung für seine Haltung zu finden. Ja, ja, natürlich, er denkt an die Unsterblichkeit der Seele und seine eigene Reinkarnation. Oder nein, er denkt an seine Geliebte. Ich bin zwar ein tapferer Mann, aber seine Schweigsamkeit machte mir Angst. Ich dachte noch, er könnte auch islamistischer Terrorist sein mit der Absicht, das Flugzeug in die Luft zu sprengen.

Nach einer Weile bemerkte ich, dass er mich auch schief ansah. Und wenn er das Gleiche von mir dächte? Könnte ich mit ihm direkt reden? Und wenn er nicht meine Sprache spricht? Er war in einer sehr seltsamen Art und Weise angezogen, genau wie die alten Griechen, würde ich sagen. Das lange Gewand mit einem höheren Band erinnerte mich an den berühmten „Wagenlenker von Delphi“.

Ich blickte aus dem Fenster und sah, dass wir über das Meer flogen. Das tiefe Blau des Mittelmeers war übersät mit Schaumkämmen, die Möwen glichen. Ce toit tranquille, où marchent des colombes....

Plötzlich wandte mir dieser Herr den Kopf zu, sah mich an und fragte mich in einer sehr alten Sprache: Wo sind wir? Wohin fliegen wir? Wer sind Sie? Ich war ganz verwundert und wusste nicht, was ich sagen sollte. Nach einer Weile und nach längerem Zögern starrte ich ihn an und fragte meinerseits: Wer bist du? Wohin fliegst du hin?. Schüchtern sagte er, ich heiße Theseus und bin der Sohn des Gottes Poseidon. „Macht er sich über mich lustig?“ dachte ich. Und wenn er mir nun erzählen würde, dass er den Minotaurus zu töten gedenkt? -Ich hob den Kopf und suchte nach der Stewardess, aber ich konnte sie nicht entdecken.-

Obwohl er sah, dass ich staunte, fuhr er fort: Ich war auf einem Schiff von Athen nach Kreta und in der starken Mittagshitze war ich auf der Brücke eingeschlafen. Was für eine Phantasie! Und wenn es wahr wäre? Ich schaute auf meine Armbanduhr und sah, dass sie sich in einen Kompass verwandelt hatte. Und wenn ich wieder träumte? Auf einmal schossen mir Ideen durch den Kopf, unter anderem der starke Wunsch, ihn auf seiner Reise zu begleiten.

Als ich wieder aufwachte, saß ich neben ihm auf dem Oberdeck eines Segelschiffes. Wir konnten die feuchte Gischt des Meeres auf unserer Haut spüren, während über uns große Zugvögel nach Süden zogen. Mein Reisegefährte hatte sein Gewand abgelegt und auch ich hatte meinen Oberkörper entblößt.

Auf einmal bemerkte ich, dass wir uns in seiner Sprache unterhalten konnten. Wir schwitzten aus allen Poren, während die Sonne majestätisch über uns thronte.

Noch zwei Tage und dann kommen wir in Kreta an, sagte der Kapitän des Segelschiffes. Ich dachte, dass alles, was ich sah, wahr sein könnte, denn auf dem Deck des Schiffes gab es außer uns nur sechs Jungen und die vereinbarten sieben Mädchen. Was für eine Schönheit! Diese Jungen und Mädchen sollten von dem Monster gefressen werden. Ich war ganz erstaunt darüber, was ich sah, und wie immer konnte ich es kaum glauben.

Noch in meiner Lethargie versunken, hörte ich aus den Lautsprechern des Flugzeuges den Piloten sagen, dass wir den Sicherheitsgurt anlegen sollten. Die Temperatur in Heraklion beträgt zweiundzwanzig Grad, sagte er, aber es herrscht trübe Sicht. Ich schaute noch einmal aus dem Fenster. Dort unter mir erschien das schöne Kreta, mit Bergen, die aus dem Meer ragten. Auf einem von ihnen, dem Berg Ida, war die Wiege, wo Zeus seine ersten Tränen vergossen hatte. Nicht weit davon entfernt war er von der Nymphe Amalthea gestillt worden.

Ich sah, dass mein Reisegefährte, der neben mir sass, jetzt mit einer dunklen grauen Jacke bekleidet war. Der Wunsch in die minoische Kultur einzutauchen, erwachte in mir. Das Flugzeug landete sanft und, als ich meinen Fuß auf den Boden setzte, spürte ich die Aufregung von jemandem, der schon immer von diesem Ort geträumt hatte.

Mein Reisebegleiter und ich redeten. Er sagte, er ginge nach Knossos, Minoan Land, Stadt des Königs Minos und vor allem wollte er Ariane treffen. Ohne meine Überraschung zum Ausdruck zu bringen, da ich dachte, dass er noch verrückt sei, fragte ich ihn, ob ich ihn begleiten könnte. Er willigte ein. Deshalb hat sich, nach und nach, meine Angst in Freundschaft verändert.

Mein Verstand erlebte eine gewisse Aufregung wegen der Emotionen, dass ich in Knossos ankommen könnte und zusammen mit Theseus im Labyrinth eintauchen würdde können. Über dieser Idee zitterte mein ganzer Körper und ich hatte das seltsame Gefühl, dass ich mein Herz von Glück schlagen hörte, denn schließlich war ich nah daran meinen Wunsch zu erfüllen, die schöne Ariadne zu treffen.

Der Besuch von Knossos konnte nicht lange warten und nachdem wir eine kleine Weile ausgeruht hatten, war genug Zeit, um etwas zu essen und ein Glas kretischen goldbraunen Wein zu trinken. Dann nahmen wir einen alten Bus, der uns durch Straßen im beklagenswerten Zustand, uns nach Knossos führen würde. Nach etwas mehr als einer halben Stunde oder höchstens einer drei viertel Stunde erreichten wir eine öde Gegend, wo man keine einzige Seele sehen konnte. Dort nahm ich an, ganz in der Nähe war Minos, auf seinem Thron in der königlichen Kammer unter den tausenden Zimmern seines Palastes versteckt sitzen.

In der Mitte des zentralen Innenhofes des Palastes gab es Sportler, die über einen Stier sprangen und ein wenig weiter, gelehnt gegen eine Säule, sah ich die schöne Ariadne. Mein Begleiter hatte sie nicht bemerkt, und ich musste ihn darauf hinweisen. Die Umgebung bestand aus großen monumentalen Räumen. Überall gab es Zimmer mit Säulen, in umgekehrte Kegel geformt. Die Wände, die mit Fresken bemalt waren, stellten gut gekleidete schöne Frauen und auch feine Athleten auf stark stilisierten Stiere dar.

Ariadne wartete auf uns mit einem Strang in der rechten Hand. Sie küsste meinen Begleiter auf beide Wangen. Mich küsste sie auch. Wir sprachen über Pasiphae, die Mutter des Minotaurus und über die Gefahren des Labyrinths mit seinen Tausenden von Zimmern. Als es Zeit war, ins Labyrinth einzutreten, überkam uns eine außerordentliche Stille. Ich hatte Angst, und wagte nicht hineinzugehen. Theseus, im Gegenteil, sehr mutig, schnappte den Strang, den Ariane ihm bot und verschwand ohne etwas zu sagen, durch die Tür.

Die Nacht brach an und Theseus erschien nicht. Ariane und ich waren sehr aufgeregt. Noch einige Minuten, dann sammelte ich meine Stärke und meinen Mut, und tauchte in das Labyrinth hinein.

Zu dieser Zeit klingelte der Wecker. Es ist halb acht morgens.

Jordi Rodríguez-Amat
28. Januar 2016

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