Copyright: 2017 Jordi Rodríguez-Amat

Dieser Text ist in der Abteilung für Kultur der Katalanische Regierung registriert worden.

 

DER KUNSTKRITIKER, DER KUNSTSAMMLER UND ICH

 

Vor ein paar Jahren, an einem Nachmittag im Monat Mai, als ich mich in einer Galerie der Rue de Seine in Paris befand, schaute ich aufmerksam ein und eintausend Mal die Gemälde an, die an den Wänden hingen. Zu diesem Zeitpunkt kam einer der berühmtesten Pariser Kunstkritiker herein. Dieser Herr schreibt in mehreren Pariser Zeitungen und auch für die renommiertesten zeitgenössischen Kunstzeitschriften. Dicht hinter ihm ein Mann mit einem furchtbar dicken Bauch in einem dunkelblauen Anzug. Nachdem ich diesen zweiten Mann ein paar Minuten sehr genau betrachtet hatte, dachte ich, dass er wie ein großer Sammler zeitgenössischer Kunst aussah.

Nach einer ganzen Weile fragte ich mich, aus welchem Grunde der Kunstkritiker vor dem Sammler die hohe Qualität dieser Bilder lobte. Ein paar Minuten später, all meinen Mut zusammennehmend, fragte ich ihn, ob ich zuhören dürfe, um so an seinem Wissen, dass er gerade in seiner Rede bewies, teilhaben zu können.

Vor allen Bildern, die dort hingen, sprach er über die Komposition, die Farben und die großen künstlerischen Werte. Es waren Werte, die ich überhaupt nicht kannte. „Die große Bedeutung dieses Künstlers erkennt man, neben anderen konzeptionellen und technischen Werten“, sagte er weiter, „anhand der auf dem Goldenen Schnitt basierenden Komposition“. Der Sammler nicht wissend, was der Goldene Schnitt war, bat den Kunstkritiker ihn zu erläutern. „Der Goldene Schnitt, auch die göttliche Teilung genannt, auf Lateinisch, mein Herr, sectio aurea oder proportio divina, ist eine Komposition, die auf dem Geheimnis der mystischen Regelmäßigkeit basiert. Er ist ein göttlicher Teil des mystischen und harmonischen Gleichgewichts. Eine Ästhetik, meine Herren, die sich in den Werken der größten Maler und Bildhauer aller Zeiten findet: Von Phidias und Michelangelo, unter vielen anderen, bis zu zeitgenössischen Architekten, Malern und Bildhauern“. Der Sammler und ich selbst waren sprachlos, so groß war unsere Bewunderung.

Flankiert von uns beiden, dem Sammler und mir, sprach der Kunstkritiker vor Stolz aufgeblasen, über die Farbe. “Mit den Farben entwickelt er so tiefe Nuancen, wie sie die großen Koloristen aller Zeiten geschaffen haben. Bitte sehen Sie sich diese Bilder hier an, wie erfolgreich nutzt er die Kalt-Warm-Kontraste und, besonders, wie verwendet er die Komplementärfarben, immer mit Schwarz zusammengesetzt, um die chromatische Intensität der anderen Farben zu betonen. Dazu noch beachten Sie, wie der Maler das farbige Gleichgewicht des ganzen Bildes beherrscht hat. Wissen Sie, meine Herren, es gab großartige Maler in der Geschichte der Kunst, die die höchsten Bereiche der Farbe erreicht haben. Nun, dieser Maler hier, nähert sich von ihnen nicht nur, sondern er erlangt dasselbe hohe Niveau“.

Nach und nach, brachten mich seine Worte auf den Gedanken, dass ich, lesen, lernen und vor allem Vorträge über all diese künstlerischen Aspekte, die ich überhaupt nicht kenne, hören muss .Und auch wenn ich Kunst sehr liebe, bemerkte ich, dass ich mit diesem Kunstkritiker nie in Wissen konkurrieren könnte. Andererseits, dachte ich, wozu will dieser Kunstkritiker den Maler auf ein so hohen Niveau heben? Vielleicht, dachte ich, will er, dass der Sammler einige Gemälde kauft, weil er so eine hohe Provision von dem Galeristen bekommen wird.

„Kunst“, führ er fort, „ist der Ausdruck der tiefsten Gefühle des Schaffenden. Kommen Sie und sehen Sie dieses Bild hier“. Da war ein kleines Bild mit rötlichen abstrakten Formen, die aus dem Hintergrund herauskommen. „Sehen Sie“, sagte er noch, „der Maler hat diese Formen auf einem Hintergrund so komponiert, dass die Intensität der Farben sie erscheinen lässt“. Mit vor Staunen geöffnetem Mund, versuchte ich den Erklärungen dieses Kunstkritikers zu folgen, weil ich so viel von ihm lernen wollte.

„Sehr geehrte Herren, glauben Sie mir, finanziell sind diese Bilder heutzutage nicht wertvoll, aber denken Sie, was für ein Wertzuwachs nach dem Tod des Künstlers. Das ist genau, was immer bei den großen Künstlern geschieht. Nach dem Tod können keine anderen Werke von ihnen geschaffen werden und ihr Wert steigt sehr hoch“.

In diesem Moment dachte ich, was für ein Argument benutzt er, um ein oder mehrere Bilder an den Sammler zu verkaufen, und sofort habe ich mich erinnert, vor ein paar Monaten von einem Kunsthändler gehört zu haben: „Günstig ist es jetzt Gemälde von diesem Maler zu kaufen, da er auf seinem Sterbebett liegt“.

Ich blieb ganz fassungslos, als er sagte, dass er vor vielen Jahren mit dem Maler persönliche Bekanntschaft gemacht hatte. Ohne Pause sprach er weiter, von Zeit zu Zeit besuche er den Maler in seinem Atelier und mit einem Glas Rotwein Clos de Vougeot, unterhielten sie sich stundenlang über Kunst und Leben. „Das Atelier wurde nach einem Projekt des Künstlers gebaut, die großen Fenstern öffnen es der Natur. Dieser Maler hat wichtige konzeptionelle und technische Kenntnisse über Kunst, und kennt auch sehr gut die Kunstgeschichte, was ihm erlaubt, die Meister aller Zeiten zu kennen, die ihm so als Referenz für seine bildnerisches Schaffen dienen“. „Lassen Sie mich Ihnen noch sagen, dass er die philosophische Theorie der Kunst auch sehr gut kennt. Er stimmt mit Schopenhauer überein, dass eine Metaphysik von der Schönheit möglich ist und auch, wenn er nicht ganz einverstanden ist, weiß er, dass Kant gesagt hat, dass eine Doktrin der Schönheit unmöglich ist, weil die Schönheit kein ontologisches Phänomen ist, sondern ein Vorbild, eine Auswirkung der menschlichen Kultur, anders gesagt, Schönheit ist keine objektive Eigenschaft.“

“Ich erinnere mich noch sehr gut”, sagte er weiter, “an unser letztes Gespräch, als ich ihn vor ein paar Monaten in seinem Atelier besucht habe. Auf einmal stand er auf und mit einem Pinsel in der Hand fing er an von Nietzsches Kunsttheorie, zu sprechen. Zur gleichen Zeit, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fing er an zu tanzen, gleichzeitig sagte er: hier Apollo da Dionysos und bewegte sich majestätisch in einem rhythmischen Tanz. Und er fuhr fort: Unter Lorbeeren und Olivenbäumen, in harmonischer Abstimmung mit den Musen, bewegt sich Apollo schön und gut aussehend. Die Balance und die Kontrolle von Körper und Geist haltend, ist er der Triumph der ruhigen Schönheit. Da kommt Dionysos, mit zitternden Körper und Seele, umgeben von Satyrn, Bacchanten und Silen, in einem gewaltigen orgiastischen Tanz. Die Kunst, mein Freund, fuhr er fort, ist das große Ermöglichen des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens”.

An diesem Punkt hatte ich den Eindruck, dass der Kunstkritiker wahnsinnig wurde.

Mein Erstaunen war so groß, dass ich viel Zeit brauchte, um wieder zu mir zu kommen. Gleichmütig und ohne zu wagen, etwas zu sagen, zwang ich mich, nicht zu sprechen, weil ich so viel von seiner Rede lernte.

Der Kunstkritiker hörte nicht auf zu reden, und nach einer halben Stunde, näherte er sich mir und fragte, „Mein Herr, wer sind Sie?“ Immer noch ganz erstaunt antwortete ich ihm: „Sir, ich bin der Maler, der diese Bilder gemalt hat“.

Jordi Rodríguez-Amat
Februar 2017

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