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ORPHEUS TRAUM
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Der Mythos von Orpheus und Eurydike war und ist bis heute eine Quelle, aus der unter anderem Künstler, Schriftsteller und Komponisten nach Inspiration suchten, um ihre Werke zu schaffen.
Eines schönen Tages traf ich Orpheus und er bat mich, seine Persönlichkeit anzunehmen, damit ich in die Welt der Toten eintreten könnte. Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm ich seine Leier und betrat die Unterwelt.
Orpheus nimmt Eurydike vor Pluto und Proserpina.
Gemälde von Rubens. |
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Ich persönlich bin begeistert, wenn ich eine der berühmtesten Arien aus Glucks Oper Orpheus und Eurydike höre.
Che farò senza Euridice. Klicken Sie auf den folgenden Link: https://www.youtube.com/watch?v=2BjCvWvg0So

Ich
gehe gern in den großen Städten nach links und rechts schauend
spazieren. Eines Tages in einem Monat Mai flanierte ich ganz ruhig an
einer Straße östlich von Paris entlang, als ich plötzlich
einen altertümlich gekleideten Mann mit nackter linker Brust sah.
Ein wadenlanger Rock bedeckte seine Beine bis weit über die Knie.
Dieser Charakter hatte in seinen Händen ein Musikinstrument, dessen
Namen ich damals nicht kannte. Erst später, nachdem ich mich mit
ihm unterhalten hatte, wusste ich, dass es eine Leier war.
Der
Mann wollte die Straße überqueren, als plötzlich, ich
weiß nicht warum, die Hupe eines vorbeifahrenden Autos ertönte.
Als er auf den Bürgersteig laufen wollte, ist er gegen die Bordsteinkante
gestolpert und auf seine Leier gefallen. Er wurde an der Brust verletzt
und, da er sein Instrument zerbrochen hatte, versank er in einem beklagenswerten
Zustand. Sein körperlicher Zustand und der psychische Schock erlaubten
es ihm nicht, seine Leier aufzuheben. Ich hatte sie vom Boden aufsammeln
müssen.
Der Mann konnte kein Französisch. Er sprach nur Altgriechisch. Mit
meinen geringen Kenntnissen der alten Sprachen war unsere Verständigung
sehr kompliziert. Seit vielen Jahren hatte ich keine Gelegenheit gehabt,
seine Sprache anzuwenden, weil ich mich lange nicht mit Homer unterhalten
hatte, aber letztlich mit viel Bemühung gelang es mir, mit ihm zu
kommunizieren. Wie er mir später sagte, war sein Name Orpheus und
er wollte den Laden betreten, der gerade vor uns war. In den Schaufenstern
des Geschäfts könnte man alle Art von Musikinstrumenten sehen
und über der Ladeneingangstür stand: Luthier du Maître
Gérard Dupont. Ich begleitete Orpheus hinein. Zu Ehren der neun
Musen, besonders Kalliopes, seiner Mutter, von der er die Begabung für
die Musik und den Gesang geerbt hatte, wollte er zwei weitere Saiten in
die Leier, die er von Apollon erhalten hatte, hinzufügen.
Maître Gérard Dupont sah Orpheus, der unsichtbar war, nicht
und er dachte, dass ich psychisch krank sei, da ich in einer Sprache und
mit jemandem, den er nicht sehen konnte, sprach. Ich hatte sogar das Gefühl,
dass er wollte, dass ich seinen Laden verließ. Etwas ängstlich
bat er mich, nach sechs Uhr wieder zu kommen, um die Leier abzuholen.
Sie wäre dann repariert und habe zwei neue Saiten. Ohne etwas anderes
zu sagen, gingen wir.
Dazu fühlte ich, dass Orpheus ein trauriger und melancholischer Mensch
war. Aus seinen dunklen Augen drang ein schwermütiger Seelenschmerz.
Mein Eindruck war, dass dieser Mann sehr unglücklich war mit einer
schrecklichen Lebenseinstellung. Ich fragte mich, was ich für ihn
tun könnte und ich dachte es wäre gut, mit ihm zu sprechen.
Wir gingen in die Avenue de l’Opéra an der Ecke der Rue des
Petits Champs, wo es ein Starbucks coffee gibt. Bei Tisch sprachen wir
über zwei Stunden im heiteren Gespräch, wobei er mir sagte,
dass er der Sohn des Königs von Thrakien war. Als ich ihm erklärte,
dass viele Künstler seine Sage dargestellt haben, einen Mythos, der
seinen Namen und den von Eurydike trägt, begann er nochmal bitterlich
zu weinen.
Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass es in dem Louvre Museum eine Menge
von solchen Gemälden gebe, wollte er sie sehen. Da wir nicht weit
von dem Museum waren, gingen wir die Avenue de l’Opéra entlang,
überquerten die Rivolistraße bis an den Carrouselplatz, von
wo wir bereits die Louvre-Pyramide sehen konnten.
Im Inneren des Museums gingen wir durch viele Ausstellungsräume,
wo Werke von Gustave Moreau, Pieter Bruegel der Ältere, Camille Corot,
Nicolas Poussin und vielen anderen Malern hängen, welche die Orpheus
und Eurydike Sage dargestellt haben. Vor jedem Bild weinte Orpheus unaufhörlich.
Als wir das Louvremuseum verließen, erzählte er mir, wie er
eines Tages, neben einem Fluss spazieren ging, und dabei die Nymphe Eurydike,
eine der Najaden traf und sie sich sofort ineinander verliebten. Mit seiner
Leier und seiner Macht alle Arten von lebendigen Wesen, Menschen, Tieren
und sogar Pflanzen zu verzaubern, faszinierte er auch Eurydike. In diesen
Moment erinnerte ich mich, Ovids Metamorphosen gelesen zu haben, wo sich
unter anderen Mythen der Orpheusmythos befindet.
Sie heirateten sofort, aber am Hochzeitstag wurde Eurydike von einer Schlange
in die Ferse gebissen, nachdem sie versehentlich auf sie getreten war.
Das starke Gift schaffte sie aus der Welt der Lebenden. Nach ihrem Tod
trat sie unverzüglich in das Totenreich. Es war Orpheus selbst, der
mir seinen eigenen Mythos erzählte.
Kennzeichnend für die Liebe zwischen zwei Menschen sind starke Gefühle
der Anziehung von einem zu dem anderen. Diese sind oft undefinierbare
und unkontrollierbare Emotionen. Der Geist hat nicht die Fähigkeit
sein eigenes Selbst zu erkennen. Es gibt auch diejenigen, die glauben,
dass die Liebe eine vergängliche Dummheit ist.
Zu diesem Zeitpunkt war Orpheus in einem Zustand der absoluten Traurigkeit.
Er sagte, er sei nun bereit, in die Hölle zu gehen, um seine Eurydike
zu holen. Ich bat ihn, mir zu erlauben, ihn zu begleiten. Seine Antwort
war, dass es völlig unmöglich sei, aber es gäbe die Möglichkeit,
seine Persönlichkeit anzunehmen, um dorthin zu gehen. Er hatte Angst,
aber nicht vor der Hölle, sondern vor sich selbst. Er war einfach
nicht sicher, ob er seinen Kopf nicht drehen würde, um seine geliebte
Eurydike beim Verlassen der Hölle zu sehen.
Als Orpheus beim dem Versuch zu Maître Gérard Dupont zu gehen
gefallen war, hatte sich mir die Form der Leier wie ein Stigma in die
Brust geprägt. Nachdem ich akzeptiert hatte, dass ich im Begriff
war mich in Orpheus zu verwandeln, begann ich sofort über meinen
Besuch in der Hölle nachzudenken. Ich musste mich auf eine Herausforderung
vorbereiten, die ich gerne angenommen hatte. Ovid bot mir an, mein Komplize
zu sein und Dante wollte mir zusätzlich die neun Kreise der Hölle
zeigen. Dante gab mir sogar einen Empfehlungsbrief für Charon, um
mir zu helfen, den Fluss Acheron auf dem Gebiet der Toten zu überqueren.
Ich wusste, dass es für jemanden, der nicht für die Hölle
bestimmt war, fast unmöglich wäre hinein zu gelangen.
Schließlich nahm ich müde, bitterlich weinend und die schönsten
Gebete singend den Weg zur Hölle, um meine Eurydike zu bekommen.
Bevor ich meinen Abstieg in die Hölle begann, ging ich zu Maître
Dupont meine Leier zu nehmen. Außerdem würde ich dem Leser
anbieten mir zu folgen genauso, wie Virgil Dante seine Hand bot.
Als ich an der vorderen Tür des Totenreiches vorbeiging, atmete ich
den allgegenwärtigen Geruch nach halb verfaultem Fleisch ein. Ich
sah sofort eine Menge Verbrecher, die vor Schmerz stöhnten.
Zu dieser Zeit sah ich auch den Fluss, wo Charon mit seinem ziemlich flachen
Höllenboot, die Seelen vom Bereich der Lebenden in das Totenreich
überführte.
Als ich mich Charon näherte und ihm den Brief reichte, den Dante
mir gegeben hatte, erhellte sich sein Gesicht vor Freude. Er hatte sich
sofort an Virgil und Dante erinnert und, da es zu dieser Zeit keine Seele
zu übertragen gab, konnten wir uns eine lange Zeit unterhalten. Obwohl
er die Seelen für immer über den Fluss Acheron in die Totenwelt
überführt, hatte er Mitleid für sie. Trotzdem stellten
wir ihn in der christlichen Ikonografie mit einem langen, harten, rauen
Bart dar. Kurz nach Überquerung des Flusses, begann ich einen langen
Weg. Nicht weit davon war der Wächter Cerberus, ein monströser
dreiköpfiger Hund, Wächter der Unterwelt. Überall waren
schreiende, angsterfüllte Seelen.
Ich setzte meinen Weg fort und zum Glück erlaubten meine Leier und
meine Melodie den ganzen Weg ohne Schwierigkeiten fortzusetzen, wenn auch
sehr langsam. Vorangehend, nach rechts und nach links schauend, war ich
verwirrt und erstaunt über alles, was ich sah. Es gab viele jetzt
tote Leute, die ich im Laufe meines Lebens, gekannt hatte. Einige erkannten
mich und versuchten sich mir zu nähern. Ich hatte keine Angst, weil
ich ein mutiger Mensch bin, aber es hat mich zum Nachdenken gebracht und
ich weinte.
Alles war ganz anders, als ich neben einem dunklen Raum vorbeiging, und
sah, wie Männer und Frauen, jung und alt, alle nackt, in einer Orgie
schwelgten. Sie aßen und tranken mit Leidenschaft. Sie gaben sich
allen Arten von sexuellen Handlungen hin. Mit meinen Augen versuchte ich
mich zu sehen, aber ich hatte kein Glück. Einige von ihnen schauten
mich mit durch Laster verschmutzten Augen an. Weiter auf dem Weg konnte
ich mit meiner Musik Ixions rollendes Rad anhalten und Tantalus Durst
und Hunger lindern. Wenig später führte der Weg nach rechts
und, nach einer engen Kurve, nochmal nach rechts, ich hatte das Gefühl
den Schatten des Virgil und Dante zu sehen, aber die Dunkelheit des Ortes
erlaubte mir nicht beide Bilder klar zu sehen und ich dachte es sei einer
einfachen Sinnestäuschung.
Schließlich bin ich umgeben von Heulen weiter gegangen und am Ende
eines langen Korridors voller schreiender und weinender toter Schatten
kam ich in der Halle an, wo Hades der Herr der Hölle und seine Frau
Persephone auf zwei großen Sesseln thronten.
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In der großen
Halle saß Eurydike neben Hades, dem Totengott und Herrscher der
Unterwelt und seiner Frau Persephone der Totengöttin. Ich habe ihnen
gesagt, dass meine Leidenschaft für meine Frau Eurydike mich zwang,
sie aus der Domäne der Toten zu holen. Nicht die Neugier oder die
Lust mit Cerberus zu streiten haben mich in die Hölle geführt.
Also nahm ich meine Leier und fing an zu singen. Nachdem sie mit meiner
Stimme und meiner Musik sehr zufrieden waren, bat ich sie tausendmal Eurydike
mit mir ziehen zu lassen. Sie beide hießen mich, andere Melodien
zu singen. Schließlich erlaubten sie mir, meine Eurydike mitzunehmen.
Eine Bedingung wurde mir auferlegt: Ich durfte mich nicht nach Eurydike
umdrehen, bis wir wieder in der Welt der Lebenden angekommen seien.
Ich ging schnell. Ich wusste, dass hinter mir die schöne Eurydike,
meine liebe Frau, mir folgte. Ich spürte das Schlagen meines Herzens
und Freude erfüllte meinen Körper. Ich war sicher, ich würde
meinen Kopf nicht drehen, um sie zu sehen, bis wir draußen in der
lebenden Welt sein würden. Der Weg war lang, sehr lang, und manchmal
wollte ich meinen Kopf drehen, um sicher zu sein, dass sie mir folgte.
Keuchend lief ich, um so früh wie möglich anzukommen. Alles
war dunkel und still diesmal. Manchmal dachte ich, dass ich ihren Atem
nicht fühlte und ich zweifelte, ob sie mir folgte. Die Versuchung
war groß, sehr groß, aber mein Kopf zwang mich weiterzugehen,
ohne ihn zu drehen. An einem Punkt des Weges dachte ich, dass wir schon
weit weg von der großen Halle waren, wo in ihren Thronen Hades und
Persephone herrschten und so stark war die Versuchung, dass ich meinen
Kopf drehte. Gerade in diesem Moment wachte ich auf und vor meinem Bett
sah ich das Bild von Eurydike, lächelnd, mit offenen Armen. Ich stieg
aus dem Bett, um ihr näher zu kommen, aber mit jedem Schritt verblasste
ihr Bild bis es völlig verschwand, als ich sie küssen wollte.
Jordi
Rodríguez-Amat
Stiftung Rodríguez-Amat |
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